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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 20.02.2006


Die PreisträgerInnen der 56. Berlinale
Tatjana Zilg

Elf nachdenklich-cineastische, aufregende und glamouröse Tage sind vorbei: Fast 400 Filme wurden gezeigt. Den Goldenen Bären erhielt das bosnische Drama "Grbavica" von Jasmila Zbanic.




Noch einmal liefen die RegisseurInnen, ProduzentInnen, SchauspielerInnen und alle weiteren Mitwirkenden, die dem Publikum über das ganze Jahr spannende, melancholische, rührende und bewegende Kinoabende bescheren, über den roten Teppich.
Besonders Jürgen Vogel posierte gutgelaunt vor den FotografInnen, nachdem "Der freie Wille" besser aufgenommen wurde als für ein dermaßen einseitiges Vergewaltigungsdrama zu erwarten war. Der Film erzählt in 163 langen Minuten die Geschichte von Theo (Jürgen Vogel), der nach 9 Jahren aus dem Maßregelvollzug entlassen wird, wo er wegen Vergewaltigung inhaftiert war. Nichts hat sich für ihn innerlich verändert und so muss er gegen seine inneren Triebe, Frauen zu erniedrigen, weiter ankämpfen. Eine kleine Wende ergibt sich, als er Nettie (Sabine Timoteo) kennenlernt und die beiden sich verlieben. Doch die Beziehung hat keine große Chancen. Ob es dramaturgisch besonders klug ist, die Freundin eines Triebtäters Nettie zu nennen, ist genauso fragwürdig wie die meisten der Statements, die Regisseur Matthias Glasner und Jürgen Vogel auf der Pressekonferenz verlauten ließen. Nach dem Zweck befragt, sagte Matthias Glasner beispielsweise eine "Entdämonifizierung" der Täter bewirken zu wollen. Ob das dadurch gelingt, indem man ein Opfer zur Täterin werden lässt - Nettie wird von einem der ehemaligen Opfer Theos aus Rache vergewaltigt, als sie diese zu einem Klärungsgespräch aufsucht - ist anzuzweifeln.
Tatsächlich erhielt Jürgen Vogel einen Silbernen Bären für eine herausragende künstlerische Leistung. Er wirkte an dem Film auch als Drehbuchautor und Co-Produzent mit.

Viel erfreulicher ist die Auszeichnung des bosnischen Dramas "Grbavica" mit dem Goldenen Bären.
"Als Teenager war ich hauptsächlich an Sex interessiert, oder mehr noch am Reden über Sex, am Träumen von Sex als größte Erfüllung der Liebe. Aber 1992 war plötzlich alles anders und ich begriff auf einmal, dass ich mich in einem Krieg befand, in dem Sex als Kriegsstrategie benutzt wurde, um Frauen zu erniedrigen und damit die Vernichtung einer ethnischen Gruppe herbeizuführen! Während des Krieges wurden in Bosnien 20.000 Frauen systematisch vergewaltigt", erzählt die Regisseurin Jasmila Zbanic, die auch das Drehbuch schrieb, über ihre Motivation, einen Film über das schwierige Thema zu machen, wie eine betroffene Frau versucht, sich und ihrer Tochter ein Leben jenseits des Traumas zu ermöglichen. "Als ich mein Kind auf die Welt brachte, ein Kind der Liebe, hat die Mutterschaft in mir ein Gefühlschaos verursacht, das mich sehr schockiert hat. Ich habe mich gefragt, was für eine emotionale Bedeutung das für eine Frau haben muss, die ihr Kind im Hass empfangen hat."
Sie schrieb die Geschichte der allein erziehenden Esma, die ihrer 12-jährigen Tochter Sara die ersehnte Teilnahme an einer Klassenfahrt ermöglichen will. Mit einem Nachweis, der bestätigt, dass Saras Vater ein Kriegsheld (shaheed) war, würde sie eine Ermäßigung bekommen. Aber Esma wehrt Saras Fragen nach der Bescheinigung ab. Sie versucht, das ganze Geld für den Ausflug ihrer Tochter aufzutreiben. Sie ist davon überzeugt, dass sie das Geheimnis um den Vater von Sara bewahren muss, um ihre Tochter und nicht zuletzt auch sich selbst zu schützen.

Den Silbernen Bären teilen sich "En Soap" von Pernille Fischer Christensen - eine dänische Komödie über die turbulente Beziehung zwischen Charlotte, der Besitzerin einer Schönheitsklinik, und ihrer transsexuellen Nachbarn Veronica - und das iranische Sozidrama "Offside" von Jafar Panahi. Anhand von dem Schicksal einiger Frauen, denen der Eintritt als Zuschauerinnen zum WM-Qualifikationsspiel Iran gegen Bahrain verwehrt wird, reflektiert er die Situation von Frauen im Iran.
Der Silberne Bär für die beste Regie ging an Michael Winterbottom und Mat Whitecross für "The Road to Guantanamo" über drei britische Muslime, die aufgrund einer Verwechslung im Gefangenlager Guantanamo Bay inhaftiert waren.

Zwei deutsche Schauspielerinnen erhielten die Silbernen Bären für die besten DarstellerInnen: Sandra Hüller für die Hauptrolle in "Requiem" von Hans-Christian Schmid, mit dem sie ihr Kinodebüt gab, und der immer wieder gern auf der Leinwand gesehene Moritz Bleibtreu, der in der Adaption des Michel Houellebecq - Romans "Elementarteilchen" von Regisseur Oskar Röhler ("Der alte Affe Angst") den Bruno Klement spielt.

Aber es wurden neben den Beiträgen des Wettbewerbs mindestens ebenso sehenswerte Filme im Panorama, Forum und der Perspektive Deutsches Kino gezeigt, für die viele unabhängige Organisationen kleine und große Preise vergaben, teils mit Gelddotierungen.

Am bekanntesten dürfte der Panorama-Publikumspreis sein, über den die BerlinalegängerInnen im Anschluss an die Vorstellungen mit Einwurfkarten abstimmen können. Dieses Jahr bewies sich erneut, dass die ZuschauerInnen Wert legen auf sehenswerte Dokumentationen mit ernsten Themen, die kurzweilig und humorvoll präsentiert werden. Den ersten Preis bekam "Paper Dolls" aus Israel von Tomer Heymann. Er gab einer Gruppe philippinischer Transvestiten, die in Israel als Betreuer von alten Menschen arbeiten, eine filmische Bühne und sorgte zugleich für öffentliche Aufmerksamkeit für den unsicheren Rechtsstatus der liebenswerten Hilfsaltenpfleger. "Paper Dolls" wurde auch von der Siegessäule-LeserInnen-Jury ausgezeichnet. Den zweiten Platz beim Panorama-Publikumspreis konnte "Estrellas De La Línea" von Chema Rodríguez einnehmen. Die Hintergrundsreportage berichtet über die Frauenfußballmannschaft "The Railroad All-Stars", die von Prostituierten aus Guatemala gegründet wurde, um den Alltag durch Sport und der Teilnahme an Laien-Turnieren zu entfliehen und zugleich auf ihre erschwerten Lebensbedingungen aufmerksam zu machen. Auf dem dritten Platz rückte der Spielfilm "Breakfast On Pluto" von Neil Jordan. Die Adaption einer Novelle von Patrick McCabe ist eine bittersüße, sehr lustige und sehr nachdenkliche stimmende Tragikomödie über einen jungen Transvestiten, der in Irland aufwächst und nach einer Liebschaft mit einem IRA-aktiven Glamrockstar nach London geht, in der Hoffnung dort seine Mutter, die er nie kennenlernen dufte, zu treffen.

Der Teddy Award ging dieses Jahr an einem Film, der überraschenderweise im Kinderfilmfest lief. "Ang Pagdadalaga ni Maximo Olivieros" von Auraeus Solito erzählt, wie der zwölfjährige Maxi hin- und hergerissen ist zwischen der Solidarität zu seiner kriminellen Familie und der Schwärmerei für einen jungen Polizisten. Erstaunlich ist, dass es für Maxi bereits völlig klar ist, homosexuell zu sein. In sexy Shorts flaniert er durch seine Gasse und trifft sich mit gleichaltrigen Freunden, um Transvestiten-Modenschauen zu spielen. Das wird von der Umgebung und von seiner Familie liebevoll toleriert, große Probleme entstehen durch den Handel seines Vaters und seinen großen Brüdern mit gestohlenen Handys. Maxi muss sich entscheiden, wo er selbst steht, was er aus seinen eigenen Leben machen möchte.
"Au-Delà De La Haine" von Olivier Meyrou erhielt den Dokumentarfilm-Teddy für die detailgetreue Darstellung und als tiefgründiges Beispiel menschlicher Gerechtigkeit im Angesicht antischwuler Gewalt. Der Kurzfilm-Teddy ging an "El Dia Que Morí" von Maryam Keshavarz für die komplexe und subtile Erzählweise der Geschichte eines jungen Mädchens, das zum ersten Mal Liebe und Liebeskummer erfährt.

Den Femina-Film-Preis des des Verbandes der Filmarbeiterinnen e.V. erhielten Yasmin Kahlifa und Carola Gauster für das Szenenbild in "Bye Bye Berlusconi!" von Jan Henrik Stahlberg. "Wenn die Absurdität der Wirklichkeit die Fiktion übertrifft, ist Trash die richtige Antwort. Dabei entsteht ein humorvolles Vexierspiel zwischen verschiedenen Ebenen - Reality-TV, Werbeclip, Traum, Thriller, Porno, Gangsterfilm und Bauerntheater. Gemeinsam mit Drehbuch und Regie prägt die spielerische und phantasievolle Ausstattung den Charakter des Filmes als politische Groteske", begründete die Jury ihre Entscheidung.

Lesen Sie auch das AVIVA-Interview mit Tomer Heymann, dem Regisseur des Dokumentarfilms "Paper Dolls", der den Panorama-Publikumspreis gewann, sowie von der Siegessäule-LeserInnen-Jury ausgezeichnet wurde.


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Beitrag vom 20.02.2006

AVIVA-Redaktion